: „Ich will den perfekten Fußball“
Interview THILO KNOTTund THOMAS WINKLER
Herr Toppmöller, können Sie sich noch an die Fußball-Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea erinnern?
Toppmöller: Bestens. Ich habe alle 64 Spiele im Fernsehen gesehen.
Gab es bei der WM etwas Neues, eine Idee, eine Tendenz zu sehen, die Sie als Fußball-Fachmann weitergebracht hat?
Nein, absolut nicht. Es wurde meistens mit Dreier- oder Viererkette gespielt. Brasilien ist Weltmeister geworden mit einer Dreierkette, die ich auch bevorzuge und mit der man nach vorne spielen kann. Brasiliens Trainer Luiz Felipe Scolari hat allerdings mit zwei defensiven Leuten im Mittelfeld spielen lassen, also defensiver als ich. Ansonsten hat man gesehen, dass die alten deutschen Tugenden im Fußball immer noch hoch angesiedelt sind, dass man mit Teamgeist und taktischer Disziplin viel erreichen kann.
Wie ist der Erfolg des DFB-Teams zu erklären? Sind die Deutschen bis ins WM-Endspiel gekommen wegen oder trotz ihrer antiquierten Taktik?
Wir haben keinen Taktikrückstand und hatten nie einen. In der Nationalmannschaft hat es in den vergangenen Jahren im Team nicht gestimmt. Wenn man die besten Leute aus der Bundesliga zusammenholt, dann haben die auch ein sehr gutes Taktikverständnis und passen auch sehr schnell zusammen. Es gibt zwar Experten, die sagen, es ist egal, welche Ordnung man hat. Aber wenn man gar keine Ordnung hat, kann man nichts erreichen. Die deutsche Taktik war anfangs defensiv ausgerichtet, weil man Außenseiter war. Dann ist die Mannschaft von Spiel zu Spiel reingewachsen, hat diszipliniert gespielt und ab und an durch eine Standardsituation ein Tor gemacht. Bei Standardsituationen waren wir absolut führend. Allerdings haben Mannschaften wie Argentinien und Frankreich immer noch die besseren Individualspieler. Wenn die topfit sind, hat die deutsche Mannschaft keine Chance, ganz einfach weil es die besseren Fußballer sind.
Kann man unabhängig vom Personal modernen Fußball spielen lassen oder braucht man dazu hervorragend ausgebildete Spieler?
In einem Spiel auf höchstem Niveau entscheidet die individuelle Klasse. Wer dann den hellsten Geistesblitz hat an diesem Tag, darauf kommt es an. Im letzten Jahr habe ich das Champions-League-Spiel der Bayern gegen Real Madrid gesehen. Das war perfektes Passspiel. Am nächsten Morgen fangen wir an mit dem Training und haben Passspiel geübt. Das machen wir nicht umsonst. Der Michael Ballack kommt raus und macht patsch, patsch, patsch. Dann kommt der nächste und dann macht das nur puuf, puuf. Da sage ich sofort Stopp, stelle mich zwei Meter vom anderen Mann hin, lasse den Pass noch mal spielen und sage: Den Pass lauf ich dir fünf Mal ab und leite sofort den Konter ein. Dass ich Patsch spielen muss, das brauchte ich dem Ballack niemals zu sagen.
Also wäre es unmöglich, eine Landesliga-Mannschaft auf den modernsten Stand des Fußball zu bringen?
Das funktioniert nicht. Sie können ja keine Abwehrkette spielen, wenn sie einen Manndecker haben, der nichts weiter kann als seinem Mann bis zur Eckfahne hinterherzulaufen. Der begreift das ja gar nicht.
Der Ausspruch Ihres Trainerkollegen Ralf Rangnick, geben sie mir zehn Mittelstreckenläufer und die spielen innerhalb von vier Wochen ballorientierte Gegnerdeckung, ist Humbug?
(Winkt ab:) Mit einem Nivea-Bällchen vielleicht.
Was ist modern am Leverkusener System?
Bei mir muss immer der Mann, der hinten den Ball erkämpft oder den Ball hat, sofort ins Mittelfeld und Überzahl schaffen. Darum geht es im modernen Spiel: Überzahl in Ballnähe zu schaffen. Dann ist es auch egal, wenn der Ball in der Eins-gegen-eins-Situation verloren geht, denn im Idealfall ist jeder abgesichert, wenn etwas passiert. So hat jeder Spieler auch individuelle Freiheiten nach vorne. Wenn ich drei Abwehrspieler habe, die gegen zwei Stürmer spielen, die nur rumstehen, dann müssen natürlich auch Defensivkräfte wie Jens Nowotny oder Lucio oder Placente marschieren, während auch mal ein Bernd Schneider nach hinten absichert. Im Prinzip muss sich jeder auf dem ganzen Platz austoben können.
Das klingt nach dem „totalen Fußball“, den die Holländer schon in den 70er-Jahren gespielt haben.
Ja, die haben schon damals taktisch sehr, sehr gut gespielt. Seitdem ist das immer mehr verfeinert und komprimiert worden. Früher hat man auf dem ganzen Platz gespielt, heute lässt man die ballferne Seite komplett blank. Dadurch wird der Gegner in Versuchung gebracht, einen Fehlpass zu spielen, weil ein langer Ball, der zwei Sekunden in der Luft ist, natürlich leicht abzufangen ist, wenn man ihn antizipiert.
Gibt es überhaupt noch grundlegende taktische Neuerungen oder geht es seit den 70er-Jahren nur noch um Verfeinerung auf höchstem Niveau?
Wenn der Gegner am Ball ist, versucht man das Spielfeld so klein wie möglich zu halten. Das heißt, man rückt ein auf der ballnahen Seite und macht da die Räume so eng wie möglich, um schnell wieder in Ballbesitz zu gelangen. Wenn man dann den Ball gewonnen hat, versucht man das Spielfeld so breit wie möglich zu machen, um Räume zu schaffen für Kombinationen und sich so Chancen zu erspielen. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen.
Ist moderner Fußball vor allem effizient oder vor allem ästhetisch?
Ich erwarte von meiner Mannschaft, dass sie ähnlich tollen Fußball spielen, aber ich will das nicht am Tabellenplatz festmachen. Ich brauche keinen Titel. Was hätte ich denn machen sollen, wenn wir in der vergangenen Saison drei Titel geholt hätten? Hätt ich mich aufhängen oder nicht mehr zum Training gehen sollen?
Worum geht es Ihnen dann?
Um das perfekte Spiel. Aber leider können Fehler nie prinzipiell ausgeschlossen werden. Deshalb muss zuerst einmal hart gearbeitet werden: Die deutschen Tugenden sind für mich Grundvoraussetzung. Einen Grobtechniker, der mit der Kugel nicht umgehen kann, den mache ich nicht mehr zum guten Fußballer. Aber einen Techniker kann ich zum Laufen bringen. In meiner Vorstellung von Fußball müssen alle mit dem Ball umgehen können. Ich will den kreativen Fußball. Ich will nicht elf Nummern haben, die austauschbar sind. Arrigo Sacchi war für mich bei der Europameisterschaft 96 in England der taktisch beste Trainer. Aber der gewinnt 3:1 und holt die fünf Besten raus, stellt dafür fünf andere Nummern rein, als wollte er beweisen: Es geht nur um Taktik, was interessieren mich Spieler X oder Y. Das ist aber falsch gedacht. Denn wie spielt man gegen ein Pressing-System? Indem man individuelle Fähigkeiten hat und so ein, zwei Mann ausspielen kann.
Wie nah an der Perfektion waren Sie im vergangenen Jahr?
Als ich nach Leverkusen kam, wusste ich, dass ich gute Spieler habe. Ich musste nur noch das Puzzle zusammenfügen. Aber man lernt eh immer dazu. In den Spielen gegen Juventus und Arsenal war schon zu spüren, dass man im Ausland denkt, wir Deutschen wären nicht in der Lage, taktisch geschickt zu spielen. Da wollte ich, gerade in Turin, sogar offensiv dominieren. Aber so weit waren wir noch nicht. Wir wollten stürmen und wurden krass ausgekontert.
Haben Sie Ihre Mannschaft überschätzt?
In gewisser Weise ja. Ich wollte mit offensiver Spielweise gewinnen, und im Rückspiel haben wir dann mit einem Defensiv-Mann mehr gespielt. Das war ein Lernprozess.
Wollten Sie beweisen, dass schöner Fußball auch effizient sein kann?
Das will ich immer beweisen.
In Deutschland aber heißt es immer, nur der Erfolg zählt.
Ich will erfolgreich und zugleich schön spielen, denn ich bin Zuschauer. Als Trainer in Bochum hatte ich an sich dieselben Voraussetzungen wie unser Nachbar Duisburg. Aber in Duisburg stehen die im eigenen Stadion mit elf Mann im eigenen Strafraum, während wir in Bochum versucht haben, attraktiven Fußball zu spielen. Wo würden Sie mit Ihrem Sohn hingehen, um Fußball zu schauen? In diese Lage versetze ich mich immer.
Wollen die Leute nicht lieber einen erkämpften 1:0-Sieg bejubeln, als ein mit Pauken und Trompeten erstürmtes 1:5 betrauern?
Ich bin ja nicht blöd, das hat schon einen höheren Stellenwert. Aber ich sträube mich dagegen.
Bevorzugen Sie Heroen-Fußball oder Konzept-Fußball?
Es hat beides seine Reize. Natürlich will man mit den besten Spielern arbeiten, keine Frage. Aber wenn man nicht die besten Spieler haben kann, gibt es natürlich auch den Reiz, die Lücke konzeptionell so gut wie möglich zu schließen.
Darf man in Deutschland nicht über Taktik sprechen, ohne gleich als Oberlehrer abgestempelt zu werden?
Nein, das glaube ich weniger. Es tun sich viele schwer damit, gerade in der Berichterstattung. Das interessiert doch keinen Zuschauer. Ich habe den Auftritt von Ralf Rangnick damals im „Aktuellen Sportstudio“ nicht gesehen, aber alle haben gesagt, das sei oberlehrerhaft gewesen. Ich würde mich nie im Fernsehen an eine Taktiktafel stellen lassen.
Warum eigentlich nicht?
Ich sträube mich dagegen, meine Trainingsmethoden offen zu legen. Das ist schließlich mein geistiges Hab und Gut.
Aber wäre es nicht wichtig, dass gerade jemand wie Sie, der modernen Fußball spielen lässt und damit Erfolg hat, sein Wissen auch weitergibt?
Trainer wie Rudi Völler, Ottmar Hitzfeld oder Matthias Sammer machen doch auch nichts anderes als ich.
Sammer hat mal gesagt, wir Deutschen hätten keine Ahnung von Taktik.
Ausgerechnet der war doch der Prototyp eines Taktikers. Ohne Sammer wären wir 1996 nie Europameister geworden. Wer war denn der Taktiker auf dem Platz, der das Spiel im Griff hatte? Wenn du so einen in der Mannschaft hast, braucht man der Mannschaft gar nichts mehr vorzuschreiben. Das ist der verlängerte Arm des Trainers, der macht intuitiv alles richtig.
Hierarchie muss sein?
Unbedingt.
Es kann keinen demokratischen Fußball geben?
Nein.
Diskutieren Sie die Taktik mit ihren Spielern?
Nein.
Warum nicht?
Einer hat die Verantwortung, das ist der Trainer. Wenn ich mit den Spielern diskutieren würde, dann hätten wir die Taktik, mit der wir erfolgreich waren, nie gespielt. Als ich im vergangenen Jahr im Trainingslager die Viererkette einführen wollte, hieß es, die funktioniert bei uns nicht, das hätten schon andere vor mir probiert. Das mag ja sein, aber das muss man natürlich auch bis ins kleinste Detail studieren und eintrainieren.
Sind Spieler konservativ?
Wahrscheinlich. Aber da holt man sich, wenn man schlau ist, natürlich die ausländischen Spieler zu Hilfe, die Brasilianer und die Kroaten.
Leiden Sie unter Ihrem Perfektionismus?
Ja, absolut. Das war schon als Spieler so. Vor dem Spiel schlafe ich wunderbar, aber nach dem Spiel brauche ich gar nicht ins Bett zu gehen. Da geht mir tausend Mal das Spiel durch den Kopf, dann lege ich noch mal das Video vom Spiel ein und sehe dann: Das kann doch nicht sein, dass sich ein Spieler meiner Mannschaft so verhält. Und dann fange ich an, Aufstellungen für das nächste Spiel zu schreiben. Samstags nach dem Spiel sind bei mir acht Mann draußen, da habe ich so eine Wut, aber sonntags sind dann schon wieder vier drin. Heute habe ich schon wieder 15 verschiedene Aufstellungen geschrieben.
Sie haben einmal für die SPD als Gemeinderat kandidiert. Welche Taktik könnte Ihrem Genossen Gerhard Schröder für dessen Saisonfinale helfen?
Dem ist nicht mehr zu helfen. Wenn ich in der 80. Minute mit 0:3 zurückliege, dann weiß ich, dass ich das Spiel nicht mehr gewinne.
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